Bei der Bergung des Schiffes, das am 18.4.2015 vor der italienischen Küste im Mittelmeer gefunden wurde, starben fast 950 Menschen [1]. Im Heck fand man eine Zahnbürste und eine Reisetube Zahnpasta, Fotos, ein Portemonnaie, ein Marienbildnis, Geldscheine, SIM-Karten, eine Schokotörtchen-Packung, eingenähte Zeugnisse und kleine Säckchen mit Erde. Alles Hinterlassenschaften der Geflüchteten, die hier ertrunken sind.
Die Bilder des Fotografen Mattia Balsamini aus dem Magazin der Süddeutschen Zeitung im Mai 2019 [2] haben mich sehr beeindruckt. Mehr als alles andere zeigen sie das Drama der Flucht und die dabei ertrunkenen Menschen, die uns durch diese Alltagsgegenstände plötzlich so nahe kommen. Die Namen sind weitgehend unbekannt, aber ihre Hinterlassenschaften erzählen Geschichten von Hoffnung und Sehnsucht, von Verlust, und auch von Versagen.
Alle diese Fundstücke sind Symbole für die Hoffnung auf ein neues Leben in Europa, auf Zugehörigkeit, auf einen friedlichen, normalen Alltag ohne Gewalt.
Gegenstände, Verpackungen, Ausweise, Zeugnisse usf. geben Auskunft über das alltägliche Zusammenleben der Menschen, sie zeugen von Abläufen, Umgangsformen und wiederkehrenden Ritualen einer Gesellschaft. Es lohnt sich genauer hinzusehen und die Dinge wertzuschätzen, die diesen Alltag ausmachen. Oft sind sie lebendigere Zeitzeugen als nüchterne Fakten und Zahlen.
Vor einigen Jahren begrĂĽndete eine kleine Gruppe von Studierenden der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle zusammen mit dem Designer Ferdinand Ulrich im Rahmen meines Editorial Seminars eine Sammlung von Alltagsdrucksachen. Inspiriert vom Archive of Ephemera Studies von Michael Twyman in Reading bei London begannen die Studierenden deutschsprachige Druckerzeugnisse aus den letzten 100 Jahren zu sammeln.
Für mich, die ich seit vielen Jahren solche Belege, die den Alltag organisieren und begleiten, aufhebe, war es eine willkommene Gelegenheit hier meine persönliche Sammlung einzubringen.
Interessant sind vor allem die Geschichten hinter den Einreichungen, die Fundorte, die Zeit, die Umstände des Fundes und des Gebrauchs. Es wurden erste Einreicherformulare entwickelt, Archivboxen für eine angemessene Lagerung angeschafft und zunächst vor allem im persönlichen Umfeld geforscht.
Die Sammlung wuchs und schnell fanden sich drei Studentinnen, die dieser Sammlung ihr Abschluss-Projekt widmen wollten. Im Rahmen einer Bachelor-Arbeit entstand aus der Sammlung das Zettelwerk, Archiv fĂĽr Alltagsdrucksachen.
Das Archiv bekam ein schlüssiges Erscheinungsbild, eine Internetpräsenz, eine Broschüre mit Miszellen, Postkarten und Plakate sowie professionelle Formulare für die Einreichungen und die Archivierung.
Das Archiv war in der Vergangenheit mehrfach Thema in Lehrveranstaltungen: Exponate wurden auf Schrift, Produktionsart und Sprache analysiert.
Die Sammlung enthält derzeit an die 6000 Objekte verschiedener Kategorien, wie z.B. Ausweise, Werbung, Gebrauchsanweisungen etc. und die Zahl der Einreichungen wächst stetig weiter.
Aus der Sammlung soll nun im nächsten Schritt das Archiv für visuelle Alltagskultur entstehen; hier können auch andere Kommunikationsmedien gesammelt und archiviert werden, z.B. Verpackungen, Spiele, Filme, bzw. auch digitale Einreichungen, die allesamt langsam aus unserem Alltag verschwinden. Auch künstlerische Arbeiten, die sich mit alltäglicher Kommunikation beschäftigen und unseren Umgang damit reflektieren, finden im Archiv ihren Platz (wie z. B. die Masterarbeit von Lina Herschel: Tage ohne Lisa).
Das Archiv ist eine in Deutschland einzigartige Einrichtung, derzeit angesiedelt in der Bibliothek der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle, ein Ort, an dem die Sammlung zu Studien- und Forschungszwecken für Studierende und Externe nach Absprache zugänglich ist. Die Arbeit ist work in progress, Studierende, Ehrenamtliche und Interessierte beschäftigen sich mit der Sammlung; finanzielle Mittel sind knapp. Eine langfristige Unterstützung des Archivs, die eine bessere Sichtbarkeit der Fundstücke auch über den Kunsthochschulkontext hinaus ermöglicht, wäre dem Projekt zu wünschen.
Das Archiv ist ein spannender Ort, an dem sich Geschichte auf eine besondere Art durch sichtbare konkrete Objekte erschließt, mit interessanten, manchmal auch traurigen und dramatischen Erzählungen hinter den Dingen.
Veröffentlicht Januar 2020.
[1] Zu der Zahl gibt es in verschiedenen Medien unterschiedliche Angaben.
[2] »Was von ertrunkenen Flüchtlingen bleibt«, Margherita Bettoni und Lara Fritzsche; Fotoreportage »Von ganz unten«, Mattia Balsamini, Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 20/2019, 16. Mai 2019